Sandra Rehschuh: Ausgeliefert – Zerstörtes Leben

Sandra Rehschuh - Ausgeliefert - Cover.
Sandra Rehschuh – Ausgeliefert

Wenn deine Krankheit dich fesselt …

Ein Familiendrama um Sehnsucht, Freiheit und häuslicher Gewalt.

Als Friedrich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Woher kommen die Hämatome an seinem Körper? Warum kann er nicht ohne Hilfe aufstehen? Nur langsam begreift Friedrich, dass er, einst ein angesehener Architekt, nur noch ein Pflegefall ist. Ausgeliefert in den Händen seiner Frau und seines Sohnes, die ihn herrschsüchtig und perfide in den Abgrund ziehen. Doch als er Kontakt zu seinem verschollenen Bruder erhält, wandelt sich seine Unterwürfigkeit. In Friedrich erwacht ein neues Selbstbewusstsein – das so zerstörerisch ist, wie seine Familie.

 

Leseprobe

Stille umgab ihn. Nur der eigene Herzschlag erschien unnatürlich laut, durchdrang die Ruhe der leeren Wohnung. Gudrun war gegangen. Irgendwann – egal. Den Blick starr gegen die weiß tapezierte Wand gerichtet, zusammengesunken, wie das berühmte Häuflein Elend, saß Friedrich noch immer auf dem Sofa. Was ist geschehen? Mit mir? Mit Gudrun? Mit meinem Leben? Ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht verstehen.

Du willst es nicht verstehen.

Von heut auf morgen hat sich mein Dasein verändert. Wo ist der starke Mann, den nichts umhauen konnte? Der immer den Kopf hoch getragen hat, egal, wie ausweglos die Situation auch erschien?

Er ist tot.

Friedrich ignorierte die Stimme seiner Gedanken. Die Stimme, die etwas wusste, von dem er nichts hören wollte. Gestern Abend war noch alles in Ordnung gewesen. Aber heute? Heute Morgen war alles so anders … so fremd. Der Schmerz hinter der Stirn meldete sich hämmernd zurück. »Ein Psychiater wäre der einzige Arzt, der mir helfen kann«, wiederholte er flüsternd Gudruns Worte vom Morgen. Was habe ich verpasst? Oder hatte sie Recht? Sollte wirklich was an ihren Worten dran sein? Friedrich lehnte sich zurück. Was ist mit dieser Frau los? Sie sieht, dass es mir nicht gut geht und verweigert den Arzt. Untypisch für sie. Oder doch nicht? Mir ging es noch nie schlecht. Woher soll ich dann wissen, wie sie reagiert? Aber diese Aggressivität … Ihr Verhalten … Das sprengt wirklich alles. Klar, sie ist schon immer ein Biest gewesen. Aber …

Still sein. Halte den Blick nach unten! Schaue ihr niemals in die Augen! Sie wird sich bald beruhigen. Halte dich im Hintergrund und provoziere sie nicht!

Was soll das? Ich kann mir doch so eine Behandlung nicht gefallen lassen.

Doch. Du kannst. Und du tust es. Seit dem Tag, Friedrich. Seit dem Tag vor einem Jahr.

Was war vor einem Jahr?

Ich kann nicht. Du musst dich erinnern! Versuche es! Sprenge die Schlösser, die alles unter Verschluss halten! Die Antwort ist da. Suche sie! Sie ist da.

Vor einem Jahr?

Vor einem Jahr.

Der Raum begann sich um ihn zu drehen. Heftiger wurde die Marter hinter der Schläfe, ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Brustkorb aus. Kraftlos stützte er den Kopf mit der linken Hand.

Erinnere dich! Fasse die Fakten zusammen!

Aber ich habe Angst davor. Angst, dass ich mich an Dinge erinnere, von denen ich keine Ahnung haben will.

Du willst doch wissen, was mit dir geschehen ist.

Jein.

Friedrich, mit dir stimmt etwas nicht. Und das weißt du. Eine Hälfte deines Körpers reagiert nicht mehr so, wie sie sollte. Du brauchst einen Stock, um dich überhaupt auf den Beinen zu halten. Außerdem warst du seit einem Jahr nicht mehr arbeiten …

… was sich nachprüfen lässt.

Gut so.

Ich müsste nur … Friedrich blickte über die Schulter, durch die geöffnete Flurtür. Unerreichbar weit entfernt stand das Telefon. Okay. Später. Wie weiter im Text? Gudrun muss arbeiten, weil ich es nicht mehr kann. Ihrer Meinung nach. Warum sollte ich meine Tätigkeit nicht mehr verrichten können? Ich habe jahrelang geackert und geschuftet. Habe gutes Geld verdient. Dadurch konnten wir uns diese Wohnung leisten, dazu noch zwei Mal im Jahr einen Urlaub. Und das soll vorbei sein? Warum sparen? Wir haben nie sparen müssen. Zeitung abbestellen. So ein Quatsch. Das kann nicht von mir kommen.

Sicher?

Ruhe! Sie unterstellt mir, dass ich seit Monaten auf der Couch hocken würde. Aber weshalb? Und selbst wenn: Müsste ich mich dann nicht ausgeruht und frisch fühlen? Stattdessen kommt es mir vor, als wäre ich heute Morgen bereits einen Marathon gelaufen.

Es ist nicht so abwegig, wie es klingt. Auch wenn der Marathon anderer Natur war.

Und dann? Ich verstehe rein gar nichts mehr. Über eine Aufklärung würde ich mich wirklich freuen. Friedrich legte den Kopf in den Nacken.

Die Antwort ist in dir.

Aber es ist so … dunkel. Hilf mir!

Ich kann nicht. Du lässt es nicht zu. Die Tür ist noch immer fest verschlossen und verriegelt. Nur du kannst sie öffnen. Suche nach den Fragen, dann erst nach den Antworten!

Was ist passiert?

Diese Frage ist zu groß. Zu viel für einen Gedanken.

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er auf seine Hände starrte, um dort eine Erklärung zu finden. Eine Erklärung, die klipp und klar auf der Hand lag. Was ist in dem letzten Jahr passiert? Die Finger waren geschwollen. Nur wenig, und trotzdem entging es seinem aufmerksamen Blick nicht. Ich schlafe noch. Ich habe alles nur geträumt. So muss es sein – ein Albtraum. Bin ich wach?

Ja. Hör auf, es in deine Fantasie abzuschieben!

Kein Traum? Realität?

Ja. Ja. Ja.

Ich glaube dir nicht. Du willst mich in die Irre führen.

Das tust du ganz allein. Steh auf! Los! Zeige mir, dass du geträumt hast!

Friedrich versuchte, sich zu erheben. Wollte der Stimme in seinem Kopf widerlegen, was so ersichtlich war. Ein Zucken fuhr durch die Muskeln, der Stock fiel zu Boden, und einen Wimpernschlag später gaben die Knie nach. Er rutschte von der Kante des Sofas, blieb auf dem Teppich sitzen. »Das gibt es nicht«, murmelte Friedrich. »Das gibt es nicht«, schwoll seine Stimme an. Sollte doch etwas an der Geschichte dran sein? Auch wenn sie noch so verrückt klingt? Wo bist du, Erinnerung? Sein Blick irrte umher, blieb an der Schrankwand hängen. Alles wie immer, einzig die Pflanzen standen in einer anderen Reihenfolge. Eine Kleinigkeit, die man binnen zwei Minuten erledigen konnte. Hatte Gudrun sie beim Gießen umgerückt? Wie ist es möglich, dass ein Jahr vergangen sein soll, ohne dass sich etwas verändert hat? Ein Jahr. Es klang wie Hohn in seinen Ohren. Für Friedrich war noch immer das Jahr 2006.

Reglos saß er da. Minuten, schließlich Stunden zogen ungenutzt an ihm vorbei. Wie viele genau, vermochte er nicht zu sagen. Es hatte keine Bedeutung. Das Zuschlagen der Wohnungstür riss ihn aus seinen Gedankengängen.

»Hey Dad.« Ein junger Blondschopf betrat das Wohnzimmer und grinste höhnisch. »Warum hängst du hier so ab? Ist man von dir gar nicht gewohnt.« Der Halbstarke nahm den Rucksack von der Schulter und warf ihn in eine Ecke. »Na los, ich warte!«

»Worauf?«

»Wie wäre es zur Abwechslung mal mit meinen Haaren? Siehst du? Rote Spitzen Oder halt! Ich habe mir ein Piercing stechen lassen.« Daniel zeigte an seine Augenbraue. »Komm, gib‘s mir!«

Verständnislos blickte Friedrich zu seinem Sohn hinauf, der etwas größer und dünner als in seiner Erinnerung wirkte. Bartstoppeln standen auf seinem Kinn. Wann waren ihm diese gewachsen? Drehen heute alle am Zeiger? »Schön, dass du da bist«, murmelte er kraftlos.

»Ja, ja. Du und deine Ironie. Nun sag schon, weshalb du mich heute rausschmeißen willst! Ich warte auf deinen Ideenreichtum.« Der Junge bückte sich und nahm sein Handy aus dem Rucksack. »Nichts? Egal. Ich bleibe sowieso nicht lange. Ich schlafe heute Nacht bei einem Kumpel.«

»Was redest du da?«

»Wie es halt ist. Sag mal, stimmt mit dir was nicht?« Daniel baute sich vor seinem Vater auf, und zog eine Bierbüchse aus der Jackentasche. Er schnippte den Verschluss weg und trank einen Schluck.

Mit mir soll was nicht stimmen? Das fragst ausgerechnet du? Ich frage mich, wer dir erlaubt hat, so in die Öffentlichkeit zu treten. Schämen muss man sich für dich. »In der Tat«, antwortete er mit mühsam beherrschter Stimme, nachdem Daniel die Büchse abgesetzt hatte. Rote Blitze der Wut tauchten vor seinem inneren Auge auf. »Kannst du mir verraten, was hier eigentlich los ist? Du säufst in meiner Gegenwart? Deine Mutter ist arbeiten, und ich … ich sitze hier auf dem Boden, komme allein nicht mehr hoch, und dich interessiert es nicht ein Stück weit.«

»Du willst mich verarschen. Spielst du ‚Versteckte Kamera’ oder irgend so einen Scheiß?«

»Könntest du bitte freundlicherweise sachlich bleiben? Etwas ist mit mir passiert, und ich weiß, verdammt noch mal, nicht, was.«

»Das checkst du erst jetzt? Ein Jahr – nein, eigentlich zehn Jahre, zu spät, oder? Wenn Mutter – meine richtige Mutter – das wüsste, sie würde sich im Grabe umdrehen. Guten Morgen.«

Wieder das Jahr. Dieses eine verdammte Jahr. Immer wieder. »Wie redest du mit mir?«

»Wie ich mit dir rede? Wie du es verdienst hast, du Krüppel.«

Eine Ohrfeige hätte ihn nicht mehr treffen können. Friedrich schrak zurück, hörte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte.

»Was ‘n los, Alter? Sonst bist du nicht so schweigsam.«

Kopfschüttelnd entgegnete er: »Was ist aus dir geworden?«

»Ein Arschloch.« Daniel drehte sich um und verließ die Wohnung. Scheppernd fiel die Tür ins Schloss.

 

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